Mit dem roten Doppeldecker nachts durch London zu fahren, ist schon an sich beeindruckend. Wer wie ich aus einer beschaulichen kleinen Stadt wie Würzburg kommt, der wird den ganzen Trubel, den dichten Verkehr und die Hektik noch faszinierender finden. Und dann fahren die auch noch auf der falschen Seite.
Am Piccadilly Circus sind wir in die Linie 94 nach South Acton eingestiegen und konnten vom Logenplatz oben auf das ganze Gewusel schauen können: Indische Rikschafahrer kutschieren nicht nur Touristen durch das nächtliche Verkehrschaos, sie beschallen ihre ganze Umgebung zusätzlich mit Musik von der Standard-CD für indische Restaurant-Besitzer in Europa. Ein wenig hat mich das an den Taxi-Taxi-Taxi-Driver in Calcutta erinnert, nur dass der gerade durch einen Bollywood-Schinken rumpelt und noch traditionelles Gedudel aufschnappt. Da Radfahrer, zu denen auch die Rikschas gehören, die Busspur mitbenutzen durften, ist der Busfahrer bereits hier wiederholt in den Nahkampf übergegangen, was uns zu dem Zeitpunkt noch belustigt hat. Unsere Gastgeber haben auch immer wieder darauf hingewiesen, dass hier alle Radfahrer so fahren und es ganz normal ist, dass die im Zickzack zwischen den Bussen fahren, auch gegen die Fahrtrichtung. Durchschnittlich ein toter Radfahrer im Monat sei lediglich zu beklagen, in einer Millionenstadt wie London tatsächlich sehr wenig. Die unerschrockenen Inder wurden zwar immer wieder überholt, nach jedem Stopp hatten wir sie aber sofort wieder vor uns und wurden wieder mit indischem Partygedudel beglückt. Die Aggressionen des Busfahrers konnte ich zu diesem Zeitpunkt schon gut nachvollziehen. Ich habe mich immer wieder gefragt, ob die Fahrgäste in den Rikschas mitbekommen, wie knapp ihre Fahrer immer wieder an den Bussen und einem Zusammenstoß vorbeischrammen. Die haben sicher nicht ohne Grund nach hinten einen Sichtschutz und beschallen ihre Fahrgäste mit lautem indischen Krawall. Auf der Picadilly Street sind eine Menge Bushaltestellen, an denen der Bus auch nur hält, wenn einer der potenziellen Fahrgäste die Hand ausstreckt, um so zu signalisieren, dass er mitfahren möchte. Vielleicht war unser Busfahrer war ja auch weitsichtig, auf jeden Fall hat er seinen Bus regelmäßig stark beschleunigt, um dann noch abrupt abzubremsen, um neue Leute einsteigen zu lassen. Ein Müllauto hat dann irgendwann die Weiterfahrt versperrt, kurzerhand hat unser Busfahrer den Rückwärtsgang eingelegt und ist in dem Getümmel rückwärts gefahren. Mutig, habe ich mir gedacht, aber Darwinismus in Reinkultur. Beim nächsten Beschleunigen kurz vor einem großen Kreisverkehr wurde es dann erstmals sehr brenzlig, auch für uns in der Loge. Ein Reisebus war auf der Spur rechts leicht vor uns. Der Überholversuch scheiterte aber an einem Ausweichmanöver des Reisebusses, sodass wir nur noch wenige Zentimeter von dessen Heckscheibe weg waren und wegen des Bremsmanövers zusätzlich Halt suchen mussten. Gurte wären mir in dem Moment ganz lieb gewesen, die hätten uns aber bei einem Auffahrunfall nur noch wenig genutzt.
Der Kleinkrieg gegen die Rikschas endete mit dem Verlassen des Zentrums, allerdings ist uns schon sehr schnell eine Radfahrerin im lila Kleid aufgefallen, die munter einen mehrspurigen Kreisverkehr durchfahren hat, ehe sie von unserem Fahrer überholt und in meinen Augen recht rüde geschnitten wurde. Schon nach dem nächsten Halt setzte sie sich wieder vor uns und so lief das fast eine halbe Stunde, weil die junge Dame mit den zwei langen Zöpfen offenbar fast das gleiche Ziel hatte wie wir. Sie wurde in dieser Zeit mehrmals wüst überholt, nicht nur von unserem Fahrer. Sie war offenbar der Endgegner unseres Busfahrers, an dem er sich die Zähne ausbeißen sollte. Von oben sah das echt schlimm aus, wenn der große Bus kurz vor einer Insel noch zum Überholen ansetzte, um ihr dann gefühlt keinen Fußbreit mehr Platz zu lassen. An die heftigen Bremsmanöver hatte ich mich fast schon gewöhnt, als der Verrückte unten gemeint hat, ein Auto besonders krass zu schneiden, weil er links überholt hat (also auf der in England falschen Seite), um dann von der Geradeaus-Spur nach rechts rüberzuschneiden, um noch rechts abzubiegen. Ich habe immerzu auf den Knall gewartet und kann bis heute nicht verstehen, dass es zu keinem Unfall gekommen ist.
Dieses Manöver hat unseren Gastgeber so wütend gemacht, dass er nach unten gehen wollte, um sich zu beschweren, wir haben aber da schon mitbekommen, dass andere Fahrgäste den Fahrer wegen seines „Fahrstils“ beschimpften. Hier fanden auch wir das schon lange nicht mehr abenteuerlich und lustig, es war wirklich beängstigend. Man sollte meinen, dass Fahrgäste, die sich über die Fahrweise beschweren, eine gewisse Wirkung erzielen, das Gegenteil war allerdings der Fall: Kurz vor der Endstation war dann auch für uns endgültig Schluss mit lustig: Ein kleiner grüner Lupo wartete an einer Kreuzung darauf, abbiegen zu können, es war auch deutlich zu sehen, dass auf der Vorfahrtsstraße noch Autos kamen, aber unser Busfahrer gab noch einmal Gas, um dann eine Vollbremsung hinzulegen, die nur Zentimeter hinter dem Lupo endete. Unser Gastgeber war auf 180, wollte laut schimpfend zum Fahrer runter, der aber schon wieder anfuhr, sodass T. nicht die Treppe runterging, sondern runterfiel. Er hat sich nicht wehgetan, aber für das anschließende „Gespräch“ war dies Wasser auf die Mühlen, denn es wurde jetzt laut. So laut, dass am Ende beide die Polizei riefen: T., um den Fahrer anzuzeigen und mitzuteilen, dass er das sei, wegen dem gerade der Fahrer die Polizei gerufen hat. Weil er einen Fahrgast hätte, der nicht aussteigen will.
Dagegen war unsere fast 40-minütige Busfahrt zum Hampton Court Palace regelrecht entspannend: Unser Fahrer war ein älterer Herr mit der gewissen englischen Würde, der ständig mit den anderen Verkehrsteilnehmern „redete“, wenn sie ihm in die Quere kamen, der aber jeder höflichen Ermahnung ein „Sir“ folgen ließ.