Die anonyme „Netzgemeinde“ der Besserwisser

Ein Shitstorm hier, ein Shitstorm da, meist ist der Anlass zu banal, um überhaupt erwähnt zu werden, aber via Twitter schimpft und erbost es sich ja noch leichter als auf Facebook, weil schließlich alles so wunderbar anonym ist. Eine Pseudo-Wichtigkeit wird zusätzlich noch dadurch vermittelt, wenn sich ein Hashtag entsprechend oft weiterverbreitet hat.

Der Furien-Aufschrei vor ein paar Monaten war ein solches Beispiel, bei dem die berühmte gefühlte Mehrheit wieder mal meinte, sich zum Wort- und Meinungsführer erheben zu müssen, bei Aussagen von Politikern reicht meist ein falsch oder unbedacht gesagtes Wort und schon bricht der nächste Shitstorm los. Ganz fies, Rainer Brüderle zog sich bei einem Sturz mehrere Knochenbrüche zu, und musste sich anschließend noch „im Netz“ verspotten lassen – schäbige anonyme Häme von Leuten, die nur selten Abstinenzler sein dürften. Es ist ja so einfach – und wunderbar primitiv – mit dem Finger auf jemanden zu zeigen und so zu tun, als sei man etwas Besseres. Die „Netzgemeinde“ muss unbedingt etwas Besseres sein, sonst würde sie nicht so oft zitiert.

Aktuellstes Beispiel: Angela Merkel hat sich beim Treffen mit Barack Obama zur umstrittenen Überwachungssoftware PRISM, die in den USA benutzt wurde/ wird, geäußert und tatsächlich in einem Nebensatz gesagt „Das Internet ist für uns alle Neuland.“. Nun, Sturm brich los (ein bisschen googeln oder gar Geschichtswissen und der Ursprung des Zitats könnte für mich zum Skandalum werden, wenn ich nur bedeutend genug wäre), das hätte Merkel nicht sagen dürfen. Neuland, dieses Internet, wo sich doch alle bestens auskennen, weil da jeder jeden Tag rumsurft und auf Facebook schreibt und rumtwittert. Kaum gesagt ist auf jeden Tag ein Shitstorm über Angela Merkel hereingebrochen, weil unsere Bundeskanzlerin so etwas Furchtbares und Rückständiges gesagt hat. Das „Netz“ lacht, vor allem auf Twitter, weil dort schließlich die Erfinder des Internets unterwegs sind. Mal davon abgesehen, dass es für einen jungen Menschen einfach ist, auf eine Person jenseits der 60 mit dem Finger zu zeigen, weil diese nicht dauerhaft online anzutreffen ist, es ist noch einfacher, diesen einen Satz herauszupicken, um anschließend mit dem Finger auf die Bundeskanzlerin zu zeigen, als ob die – im Gegensatz natürlich zum Alleswisser auf Twitter – die letzte Hinterwäldlerin sei. Der eigentliche Zusammenhang ist egal, noch mehr, dass sie auch noch Recht hat:

Wer von den Twitter-Klugscheißern kann denn tatsächlich einen konstruktiven Beitrag dazu leisten, wie Staaten mit der Tatsache umgehen sollen, dass Kriminelle ihre Verbrechen mithilfe des Internets planen? Wer von diesen Klugscheißern kann denn sagen, wer „das Netz“ oder „die Netzgemeinde“ ist? Wahrscheinlich niemand. Aber gemeinsam ist man ja stark, besonders dann, wenn es auch noch anonym ist. Oder wenn man Sigmar Gabriel heißt, der sich auch hämisch äußern musste, weil er – welche Überraschung – oft rumsurft. Und Christian Ude hat München schon 2003 auf OpenSource umgestellt, folglich versteht der bayerische Möchtegern-MP das Internet, herzlichen Glückwunsch zu so viel Kompetenz! Vielleicht hält er auch bald noch „Internet“ in den Händen. Mehr als albern, wie via Twitter Mäuler zerrissen wurden, wie hier in einem SZ-Kommentar veranschaulicht. Überhaupt fand ich Johannes Kuhns Kommentar sehr intelligent, weil er auch schreibt, dass zwar sehr viele Menschen online sind, Apps wie selbstverständlich im Alltag nutzen, Hangouts starten oder RSS-Feeds abonnieren, viele andere aber eben auch nicht. Was ist denn mit der „verlorenen Generation“ über 40, wo statistisch gesehen sehr wenige netzaffin sind, wie es so schön heißt. Warum werden denn an Schulen gerade Eltern informiert und aufgeklärt, was ihre Kinder „im Netz“ so treiben, und was da alles möglich ist? Es gibt tatsächlich genug Menschen, die nur wenige Jahre älter – oder sogar jünger – sind als ich, die damit null und nix am Hut haben. Die benutzen Google als Suchmaschine, lesen Nachrichten und bestellen Klamotten, mehr aber auch nicht. Für die ist das völliges Neuland, das ist Fakt. Und politisch ist „das Netz“ erst recht Neuland, auch im Jahr 2013 und auch in Zukunft. Neuland ist es nach wie vor gerade für die Legislative, weil bestehende Gesetze nicht mehr ausreichen, um dem weltumspannenden Internet mit all seinen positiven wie negativen Möglichkeiten Herr werden zu können. Und die Entwicklung ist stets schneller als der Gesetzgeber. Wo liegen denn rechtliche Grenzen? Was darf überwacht werden? Was wären Geheimdienste für Geheimdienste, würden sie „das Netz“ außer Acht lassen, wo sich Extremisten aller Couleur munter tummeln und sicher nicht nur Brieffreundschaften über ihre Email-Accounts pflegen. Wie geht man mit der massenhaften Veröffentlichung geheimer und brisanter Dokumente um? Wie unterbindet man dies? Mit jedem neuen Programm, mit jedem Plug-In, mit jeder App ergeben sich für den findigen Nutzer neue, teilweise ungeahnte Möglichkeiten, die man schnell nutzen kann, die aber genauso schnell missbraucht werden können. Ist das kein Neuland? Wie soll denn ein Staat seine Bürger hier schützen? Wie soll er aber auch gleichzeitig die Rechte seiner Bürger wahren? Derjenige, für den das alles alte Hüte sind, sollte sich vielleicht schleunigst bei der Bundesregierung melden und seine fertigen Gesetze und Schutzmaßnahmen vorlegen. Ansonsten möge er vorerst die Klappe halten und nicht hysterisch aufschreien und mitschreien wie der verpickelte Mitläufer auf dem Schulhof, der mal schnell mitmacht, um nicht am Ende selbst gehänselt zu werden.

Nachtrag 19.09 Uhr: Gerade sehe ich auf redaktion42, dass ich mit meiner Meinung auch nicht alleine bin: Matthias J. Lange denkt genauso über die digitalen Besserwisser, er hat vor gar nicht so langer Zeit einen Vortrag für die Eltern an unserer Schule gehalten, für die das Internet eben völliges Neuland ist. Auch Richard Gutjahr verteidigt Merkels Ausspruch.

Von Alex

Einst habe ich an der Universität in Würzburg studiert, jetzt bin ich Lehrer. Mein Lieblingszitat stammt aus dem grandiosen österreichischen Film Poppitz: „Dänkn däaf mass, soogn liaba neet“ – schließlich sind zumindest die Gedanken frei – wer es nicht verstanden hat: „Denken darf man es, sagen besser nicht“

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