Die Würzburger Doppelmoral

Wir Würzburger sind schon ein komisches Volk, zumindest ein Teil der Menschen, die mit mir in dieser an sich tollen Stadt wohnen. Eigentlich sind alle für alle etwaigen Neuerungen, es sei denn, die Neuerung fährt an der eigenen Haustür oder irgendetwas anderem vorbei, für das man sich persönlich zuständig fühlt. Überraschend sind (fast) alle für die neue Straßenbahnlinie zum Hubland und zum neuen Stadtteil am Zupferhügel, sogar der Verhinderungsverein Würzburg und die Ringparkschützer vom Dienst haben kaum Einwände oder sind sogar begeistert, obwohl der eine oder andere Baum fallen könnte, wenn die Straba den Ringpark kreuzt. Würzburg wäre aber nicht Würzburg, fände sich nicht doch noch irgendein Vereinchen, das große Bedenken oder gar Einwände äußert und dagegen ist: Die „Freunde der Würzburger Residenz“ haben sich also nachdrücklich gegen die Trasse entlang der Residenz ausgesprochen, weil sie nicht nur Angst um den Titel „Weltkulturerbe“ haben, sondern auch die Oberleitungsmasten, die Wartehäuschen und die Kassenautomaten fürchten. Bisher habe ich den Verein nicht gekannt, jetzt bin ich dankbar, dass sich jemand engagiert. Das mit den guten Argumenten kriegen sie auch noch hin. Sie können es ja mal versuchen, indem sie sich den Autoverkehr vorstellen, der dann sicher nicht mehr im bisherigen Umfang an der Residenz vorbeifährt. Dadurch entstehen wohl mehr Schäden als durch eine Straba, bei der ohnehin bereits über Passagen ohne Oberleitung nachgedacht wird.

Passend dazu ist Würzburg natürlich auch eine Stadt der Bedenkenträger bezüglich des Datenschutzes, wenn hier eines der Google-Autos gesichtet wird. Das steht dann gleich in der Main-Post und in einem nichtssagenden Beitrag findet das auch Tilman höchst bedenklich, da Google tatsächlich Geld verdienen will. Die fleißigen Main-Post-Kommentatoren finden das dann natürlich auch bedenklich und schon gibt es eine Diskussion über nichts. Toll finden es die Würzburger allerdings, dass man sich bei Google Earth so manche Stadt schon mal online anschauen kann, um den nächsten Urlaub zu planen. Beim Kaufhof werden fleißig Payback-Punkte gesammelt, beim Praktiker, beim Media-Markt, bei Rewe und bei real wird bereitwillig die Postleitzahl gesagt und die Kundenkarten der anderen Unternehmen werden auch nicht vergessen, wenn es um Digits oder andere Bonussysteme geht, die auch nur unsere Daten wollen. Am besten ist es, dann noch eine Gruppe im StasiVZ zu gründen, um der Welt mitzuteilen, dass man gegen Datenmissbrauch ist.

Von Alex

Einst habe ich an der Universität in Würzburg studiert, jetzt bin ich Lehrer. Mein Lieblingszitat stammt aus dem grandiosen österreichischen Film Poppitz: „Dänkn däaf mass, soogn liaba neet“ – schließlich sind zumindest die Gedanken frei – wer es nicht verstanden hat: „Denken darf man es, sagen besser nicht“