Wer bei Twitter angemeldet ist, kennt die wichtigtuerischen Beiträge, die mit „+++EIL+++“ (oder noch schlimmer: +++BREAKING+++) anfangen und dann versuchen, in den letzten zur Verfügung stehenden 131 Zeichen (oder noch weniger) das unterzubringen, was man halbwegs mitteilen will, schließlich muss es ja auch noch für den passenden #Hashtag reichen. Die Mühe, ein verkürztes Blabla noch auf seine Richtigkeit zu überprüfen, macht man sich heute meist nicht mehr, was getwittert wurde stimmt, schließlich twittern auch nur die ganz gescheiten Journalisten und bekommen so auch ihre wichtigsten Informationen. Mag man meinen. Oder besser: Mögen die Betroffenen meinen, die dieses Medium überhöhen, überschätzen – und überfordern. Wenn 140 Zeichen reichen sollen, um Inhalte oder Meinungen kundzutun, stimmt einfach irgendwas nicht. Dann kann man das auch nicht mit der Internetwelt im Jahr 2010, 2011 oder 2012 erklären und jeden belächeln, der das etwas anders sieht. Die „Netzgemeinde“ – in meinen Augen heißester Kandidat für das Unwort des Jahres – wird schließlich gerne zitiert, hinter irgendeinem @Pseudonym verbirgt sich dann irgendwer, der in einer Nachricht, die kürzer ist als eine werbefinanzierte SMS, der Welt etwas kundtut, das irgendwie wichtig erscheint. Weil es über Twitter verbreitet wurde.
Nazi-Vergleiche sind ja immer wenig vorteilhaft, erst recht nicht für den, der einen solchen Vergleich anstrengt, helfen diese Vergleiche doch prima, jemanden zu diffamieren. Man muss sie nur in böser Absicht missverstehen oder nicht verstehen. Beispiel gefällig? In der modernen Meinungskriegsführung sei hier mal – natürlich nur als Beispiel – ein verändertes Goebbels-Zitat angebracht: „Nun Volk, steh auf, und Shitstorm brich los!“ könnte die Devise für die „Netzgemeinde“ sein, die kleiner ist, als die vermuten, die sich immer auf selbige beziehen und aus dieser gefühlten Mehrheit eine wie auch immer geartete Mehrheit werden lassen: Dieser von mir angestrengte Vergleich wird jetzt auf ein Minimum reduziert – in diesem Fall wären es die Stichwörter „Alex“ und „Goebbels“ und „schlimmes Zitat“ im sowieso „verwahrlosten Blog“ unter dem verkürzten Link yrtzlo.hy, den kaum einer anklickt – und über Twitter weiterverbreitet und eben jene verkürzte oder halbgare Aussagen – +++EIL+++ Wuerzburcher Alex vergleicht Twitterer mit Goebbels – sorgen dann für den fast unausweichlichen Sturm der Entrüstung, neudeutsch bzw. in der hippen Twittersprache auch „Shitstorm“ genannt, der über mich in Blog-Kommentaren, auf der Facebook-Seite, auf Twitter hereinbricht. Dieser ist spätestens dann peinlich, wenn man merkt, dass die Leute gar nicht mehr mitbekommen haben als das getwitterte „Zitat“ und letztlich gar nicht wissen, worum es wirklich geht. Wichtig ist, dass die Empörungswelle durch die „Netzgemeinde“ geschwappt ist und viele mitgerissen hat, die jetzt auch gegen mich sind. Die Auswirkung eines Shitstorms hat man dann als bleibende Erinnerung. Schade, dass es 2005 Twitter und Facebook noch nicht gab. Erstmal soll der Sturm der Entrüstung alles plattmachen, den Rest kann man dann später (er)klären. Sarah Kuttner kann da sicher auch ein Liedchen von singen.
Überhaupt beschäftigen sich hippe 2.0-Journalisten wohl sehr gern mit den knappen Gedankenfürzen von Leuten, deren Twitter-Account dann auch fleißig zitiert wird, als wäre es eine gehaltvolle Pressemitteilung, schließlich ist ein Furz doch besser als gar nichts. Bei den letzten Wahlsendungen ging mir der ständige Verweis auf alberne Stellungnahmen – Endlich! Juhu! #ltwnrw #wurscht“ – via Twitter derart auf den Senkel, dass ich mich wirklich gefragt habe, ob das ernsthafte Wahlberichterstattung sein soll, wenn man sich mit gehalt- oder belanglosen Äußerungen beschäftigt, die kürzer sind als eine SMS. Bei Günther Jauch durfte sich dann zu allem Überfluss der neue Geschäftsführer der Twitter-Religion Piraten hinsetzen und laufend auf seinem iPhone rumspielen, um die Leute im Netz zu füttern, die als seine Follower an ihn glauben, an seiner Finger hängen und jedes Wort retweeten. So heißt das, wenn man kurze Äußerungen noch kürzer macht, indem man noch ein RT und den Urheber davorsetzt, während das Ende des ursprünglichen Tweets – neudeutsch für Geblubber – fehlt. Mr. Ökolatschen wollte die „Diskussion“ im Netz verfolgen, um noch exakter antworten zu können. Beides ging in besagter Sendung voll in die Hose. Dass er dabei auch jeglichen Anstand vermissen ließ, nebensächlich.
Ein grandioses Beispiel der völligen Twitter-Überschätzung ist das Gezanke um die Gedichte von Günter Grass, über deren Qualität ich aus gutem Grunde hier lieber nichts schreibe. Beim ersten gab es einen Shitstorm, schließlich war da was mit Israel drin. Dazu Grass’ Vergangenheit. Beides zusammen: Ganz schlecht. Beim zweiten gab es eher Verwirrung, und zwar richtig schöne Verwirrung, weil diese das Pseudo-Nachrichten-System Twitter und alle, die daran glauben, herrlich entlarvt hat: Frisch-Biograph Volker Weidermann hat im Feuilleton der FAS einen satirischen Beitrag geschrieben, der das zweite Gedicht als kühnen Coup der Titanic-Redaktion darstellt, auf den die SZ, wo das Gedicht erschienen ist, hereingefallen sei. Dass der Beitrag mit einen Zitat von Heinz Erhardt beginnt und den Konjunktiv bemüht, es ist niemandem aufgefallen, vor allem niemandem in der „Netzgemeinde“, die die Meldung – natürlich als +++EIL+++ – schnell über Twitter verbreitet hat, worauf dann wieder andere twitterhörige Journalisten hereingefallen sind. Eine Farce, wie es auf Spiegel online zu lesen war, ist das wirklich nicht, nur wenn man es dazu macht und unfähig ist, kurz nachzuprüfen, was gleich die Runde machen soll. Über die Qualität des Gedichts könnte man an dieser Stelle angesichts der Zweifel an der Grass’schen Urheberschaft tatsächlich zu sprechen kommen, das sprengt dann aber auch den Rahmen, ernst genommen wird Grass’ Gedicht in meinen Augen jetzt nicht mehr.
Richtig putzig wirkt dieser Versuch einer Rechtfertigung eines +++EIL+++Journalisten in seinem Blog, der aber ebenso entlarvt, weil – oh Wunder! – nur Twitter rauf- und runterzitiert wird, als wäre dort eine lebhafte Diskussion in Gange. „Sprich in ganzen Sätzen“, eine häufige Aufforderung im Unterricht, im Internet aber nicht mehr nötig. Ein bisschen Recherche-Arbeit, so wie früher, und kein Journalist hätte die Ente von der Titanic-Fälschung weiterverbreitet, womit wir aber wieder beim ersten Absatz wären. Auf Twitter stimmt doch alles. Dann aber auf die schimpfen, die sich nicht der völligen Vertwitterung hingeben und mit dieser neuen Unform der Kommunikation ein wenig spielen, ist wirklich peinlich, weil der Verfasser offenbar überfordert scheint, eine Meldung erst zu überprüfen, ehe er sie weiterverbreitet. Stattdessen wirft der Verfasser der FAZ vor, sich als Dinosaurier nicht auf das Digitale einzulassen und unterstellt dem Dino FAZ, nicht zur Kommunikation mit ihren Lesern fähig zu sein. Vielleicht ist es genau umgekehrt. Die Twitter-Fanatiker sind nicht mehr zu normaler Kommunikation fähig, die auch darin besteht, Texte – mit mehr als 140 Zeichen wohlgemerkt – ganz zu lesen UND zu verstehen, ehe man darüber mit anderen debattiert und diskutiert. Einer Meinung muss man dabei ja nicht sein.
Tut mir leid, ich habe nicht bis zum Ende gelesen. Nach 140 Zeichen war meine Aufmerksamkeitsspanne erschöpft und Nachrichten mit „+++EIL+++“ oder „+++BRECHENDE NEUIGKEIT+++“ selektiert mein Hirn automatisch und wirft sie in die geistige Rundablage 😉
Also nein, tut mir leid, aber ich kann mit dem neumodischen Hippen-Twitter-Gemecker einfach nix anfangen. Wo bleibt das gute alte Blog-Gemecker? Warum wurde das durch Twitter-Gemecker ersetzt? Die Argumente sind doch fast identisch:
Da schreiben iiiirgendwelche Leute — wer soll dieser Alex sein? — ihr Online-Tagebuch. Dabei will das doch keiner lesen, so ein Tagebuch von so einem Pseunonym! Und keiner weiß, was man davon jetzt halten soll, weil rechecherieren tun diese Blogger ja alle nicht! Und eine Möglichkeit herauszufinden, wer dieser Alex ist, gibt es ja auch nicht.
Und ständig diese Hysterie in dieser Blogosphäre — oh tut mir leid, das heißt ja jetzt „Netgemeindeâ€! Das ist so eine Gruppe von Menschen, wo jeder jeden kennt und alle gleich ticken, und von denen lese ich 20 Stunden täglich — weshalb ich mich ja auch immer so elaboriert darüber aufregen kann — aber eigentlich sind das nur ganz Wenige ohne jede gesellschaftliche Relevanz.
Die benutzen so komische Dinger, wie Hyperlinks und schreiben ihre Texte mit der Tastatur, statt der wertstabilen Handschrift, wo man nicht nachdenken muss, weil man ja alles im Nachhinein korrigieren kann.
Furchtbar diese Zeiten! Ich würde gerne weiter darüber räsonieren aber eine vertrauenswürde, glaubhafte und gut recherchierte Nachricht, flattert gerade am Fuß einer Brieftaube in mein Zimmer.