Waren die Münchner U-Bahn-Schläger und ihre Kollegen in der Republik in den letzten Wochen und Monaten Neonazis mit Springerstiefeln und Glatzen? Habe ich was verpasst? Sind die antisemitischen Straftaten – Schmierereien und Beschimpfungen – tatsächlich immer nur von unbelehrbaren Ewig-Gestrigen, die von brauner Ideologie benebelt sind, verübt worden?
So was wie 1938 darf nie wieder passieren. Nie. Aber ein solcher Kommentar wie der von Arno Widmann in der Frankfurter Rundschau anlässlichen des morgigen 60. Jahrestags der Reichskristallnacht zieht einem, zumindest mir, echt die Schuhe aus. Rassistische Ressentiments dürfen natürlich nicht geschürt werden, aber aus Straftätern mit dem politisch korrekten Migrationshintergrund kann man nicht mal eben Neonazis mit Springerstiefeln machen und so tun, als wären Gewalt oder Antisemitismus rein deutsche Problem und Ausländer immer Opfer. „Jude“ als Schimpfwort benutzen nämlich nicht nur saudumme Glatzen, das weiß ich aus eigener Erfahrung.
Die FR habe ich aus meinem Nachrichten-Feedreader gelöscht. Das ist nicht meine Welt. Interessant ist einmal mehr, was Henryk Broder zu diesem Thema bzw. zum Umgang mit der Reichskristallnacht zu sagen hat. Die Augen für die Gegenwart verschließen und „Wehret den Anfängen“ schreien hilft nicht unbedingt weiter.
Der FR Artikel warnt vor einem unterschwelligen – bisweilen auch offenen – deutschen Antisemitismus, den es auch heute noch zu bekämpfen gilt. Dabei wird an keiner Stelle behauptet, dies sei ein rein deutsches Problem. Eher befasst sich der Autor einfach nur ausschließlich mit einem rein deutschen Antisemitismus. Die Tatsache, dass es auch in der islamischen Welt anisemitische Haltungen gibt, wird von dem FR Kommentar weder geleugnet noch bestätigt. Es ist einfach nicht sein Thema. Insgesamt erscheint mir der Kommentar einfach nur ein Aufruf zur Zivilcourage zu sein, eine Warnung davor, sich 70 Jahre nach der Reichskristallnacht auf Erfolgen im Kampf gegen Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus auszuruhen oder sich dem Irrglauben hinzugeben, antisemitsche Gedanken seien aus deutschen Köpfen vollständig verschwunden.
Daher ist mir dein Eintrag völlig unverständlich.
Sie sollen auch aufhören, Stimmung zu machen gegen Ausländer. Wenn sie das tun, zündeln sie mit der lauernden Pogromlust eines – winzigen, aber zu Schlimmstem entschlossenen – Teiles der Bevölkerung. Wir, die Pendler in den S-Bahnen und Zügen, sollen achtgeben auf einander und den Mut finden, den wenigen – aber manchmal massiv auftretenden – Springerstiefeln entgegenzutreten
Den Grundtenor habe ich verstanden, das Beispiel ist aber wohl ziemlich eindeutig, wo der Kommentator seine U-Bahn-Schläger gerne verorten würde. Das ist in diesem Zusammenhang völlig fehl am Platz. Daher habe ich auch auf Broder verwiesen.
Ich denke, das Beispiel mit der U- und S-Bahn soll nur einen Ort illustrieren, an dem Zivilcourage typischerweise stattfindet bzw. stattfinden kann. Warum ist dieses Beispiel so fehl am Platz? Weil dort auch andere Bevölkerungsgruppen Straftaten verüben?
Auch denke ich, dass Broder und der FR Kommentar gar nicht so weit auseinander liegen. „Was mich nur wundert, und was mich immer stärker empört, ist, dass die Beschäftigung mit der Vergangenheit so einflusslos und folgenlos bleibt für die Beschäftigung mit der Gegenwart.(….)Wenn man sich die Sache politisch überlegt, dann kommt es darauf an, was heute passiert.“
Genau dies macht doch der FR Artkel: Er stellt aus der Vergangeheit die moralischen Folgerungen für unsere Gegenwart her.
Die Forderung nach mehr Zivilcourage kann ich nur unterstreichen, auch die Warnung vor ähnlichen Tendenzen. Aber gerade in der U-Bahn sind es in letzter Zeit ganz bestimmt keine „Springerstiefel“, die Passanten überfallen, deshalb verzerrt dieses Beispiel die Realitätm in einer unmöglichen Art und Weise, weil sehr viele Gewalttaten eben nicht von den tumben hässlichen Deutschen (Glatzen mit Springerstiefeln), sondern eben von Migranten ausgehen. Im Satz unmittelbar davor warnt er vor rassistischen Ressentiments, um dann sein U-Bahn-Beispiel nachzuschieben. Das verschließt doch die Augen, wie man sie mehr nicht verschließen kann.
Selbstverständlich darf man nicht im gleichen Atemzug dann über Ausländer schimpfen und alle über einen Kamm scheren, aber Henryk Border sieht die Reichskristallnacht und das Gedenken an diese Gewalttaten dahingehend instrumentalisiert, dass zwar alle gewarnt werden, das Übel schon an der Wurzel zu bekämpfen, gleichzeitig lenkt aber der Autor den Blick ganz eindeutig nur gegen rechte Gewalttäter, wo eben jener Antisemitismus nicht nur von den Deutschen ausgeht.
Natürlich soll die U-Bahn einen Ort illustrieren, aber gerade dort trifft man eben nicht auf die Nazi-Idioten, sondern auf andere. Die Bremer Fußball-Fans haben gestern eindrucksvoll gezeigt, wo solche Zivilcourage gegen braune Gestalten stattfinden kann. Indem sie die Glatzen mit ihrer Reichskriegsfahne bedrängt haben und so einen Einsatz der Polizei regelrecht provoziert haben, damit die Neonazis entfernt werden.
Ich denke doch, auch in diesem Beitrag ist mein Standpunkt eindeutig und nicht interpretierbar.